Wer friert, verliert

Der Koloss vor mir besteht aus Wasser in seiner härtesten, faszinierendsten und mächtigsten Form: Eis. Wissenschaftliche Beschreibungen über die Dichte von Eis, der Anomalie des Wassers oder der Kristallstruktur gefrorener Flüssigkeiten können aber nicht die Wirkung der gewaltigen Masse vor meiner Tauchmaske beschreiben. Hätte ein Eisberg Charisma, zöge er trotz seines kühlen Charakters und seiner bizarren Körperform auf jeder Party, jedem Konzert und jedem Staatsempfang die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Im Augenblick bin ich alleine mit ihm. Umso beeindruckender.

Die gesamte Oberfläche besteht aus Vertiefungen unterschiedlicher Größe, die an die Struktur auf einem Golfball erinnern. Eine blau schimmernde Linie durchzieht das Eis wie ein gerader Schnitt. Der gesamte Eisberg ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht, das durch die dicke Eisdecke hindurch sickert und an zahlreichen Bruchstücken reflektiert wird. 20 Meter über mir durchschneidet ein gleißender Lichtstrahl das klare Wasser und beleuchtet ein winziges Fleckchen Meeresboden. Die Sonne scheint in diese eisige Anderswelt nur durch unser Einstiegsloch, das wir in stundenlanger Arbeit mit Bohrern und Sägen aus dem dicken Meereis geschnitten haben.

Noch hat die Decke aus gefrorenem Meerwasser den Eisberg fest im Griff und erlaubt ihm nur alle paar Stunden, einige Meter seiner Flanke bei Niedrigwasser freizulegen. Erst im Frühling, wenn das Meereis aufbricht und der Wind die Schollen aus dem Fjord aufs offene Meer treibt, wird sich auch der blaue Eiswürfel auf den Weg machen, seine Form verändern und in kleinere Teile zerfallen. Am Ende wird sich jedes Stückchen Eis wieder in flüssiges Wasser verwandelt haben. Vom kristallenen Berg bleiben nur Fotos und die Erinnerung an kalte Finger.

Frozen life

The colossus in front of me consists of water in its hardest, most fascinating and powerful form. Ice. Scientific descriptions of the thickness of ice, the anomaly of water or the crystalline structure of frozen fluids cannot describe the effect of the powerful mass in front of my mask. If an iceberg had charisma, despite its cool character and its bizarre form it would draw the undivided attention of all present at any party, any concert and any state reception. In this moment I am alone with it. Even more impressive.

The whole surface consists of depressions of different sizes, which remind me of the structures of a golf ball. A blue, shimmering line crosses the ice like a straight cut. The whole iceberg is bathed in a dusky twilight, which seeps through the thick ice cover and is reflected in numerous fragments. Twenty metres above me, a gleaming beam of light cuts through the clear water and illuminates a tiny patch of ocean floor. The sun shines into this icy otherworld through our manhole, which has taken hours of work to cut from the thick sea ice with drills and saws.

The blanket of frozen ice water still has the stranded iceberg firmly in its grip and only allows it to expose a few metres of its flank every few hours at low tide. Only in spring when the sea ice breaks and the wind drives the ice floes from the fjords into the open sea will the blue ice cube set off, alter its shape and disintegrate into smaller pieces. At the end, each bit will have turned back into flowing water again. All that remains of this crystal mountain are photos and the memory of cold fingers.